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Die Analyse des vegetativen Nervensystems (VNS-Analyse) oder warum der Säbelzahntiger immer noch unser grösster Feind ist

 

Der Patient vor mir ist etwas brüskiert, als ich ihn bitte, mich doch in ca. 6 Wochen wieder aufzusuchen. Was, so bald schon wieder, wo doch jetzt alles gut ist? Nicht ganz….

Vor einem halben Jahr erlitt der 49 Jahre alte Patient einen Herzinfarkt, der rasch diagnostiziert und mittels Herzkatheter, Aufdehnung des verschlossenen Gefäßes und Einsetzen eines Stents behandelt wurde. Das Ergebnis ist hervorragend, die Funktion des Herzmuskels ist nicht beinträchtigt, die kardiovaskulären Risikofaktoren (kein Diabetes, kein Nikotin, leichter Bluthochdruck,milde Erhöhung der Blutfettwerte, leichtes Übergewicht, hohe familiäre Belastung an Herzerkrankungen (Vater mit 55 Jahren an einem Herzinfarkt vestorben, Onkel väterlicherseits in jüngeren Jahren Bypassoperation, die Schwester früh nach der Menopause ihren ersten Stent bekommen), deutliche Stressbelastung bei der Arbeit im unteren Management) evaluiert. Blutdruck und Blutfette werden medikamentös behandelt und sind gut eingestellt, Lebensstilfaktoren wurden ausführlich besprochen und an die Lebenssituation angepasst (Ernährung, Bewegung, Stressmanagement), der Patient arbeitet hervorragend mit. 

Warum also möchte ich ihn bereits in 6 Wochen wieder sehen?

Gerade haben wir eine Analyse des vegetativen Nervensystems durchgeführt und festgestellt, dass eine hohe Sympathikusaktivität dominiert und auch unter „Provokation“ keine ausreichende Aktivität des Parasympathikus vorliegt. Diese Kombination hat evidenzbasiert eine ungünstige Prognose auf die vorliegende Herzerkrankung und gehört deshalb zeitnah kontrolliert.

Was ist das vegetative Nervensystem und wie können wir es messen?

Das vegetative Nervensystem steuert in unserem Körper als übergeordnete Schaltzentrale  Prozesse wie Atmung , Blutdruck oder Herzschlag ohne unsere bewusste Kontrolle und arbeitet autonom, wir können es also nicht beeinflussen. Es besteht aus Sympathikus und Parasympathikus, zwei Gegenspielern, die zusammenarbeiten und sich ergänzen-wenn sie in Balance sind. 

Der Sympathikus entspringt im Rückenmark im im Brust- und Lendenbereich und heisst deshalb thorakolumbales System, der Parasympathikus im Hirnstamm und im Rückenmark auf Kreuzbeinhhöhe und wird kraniosakrales System genannt.

Der Sympathikus hat uns vor 10000en von Jahren, als wir noch in der Höhle lebten, unzählige Male das Leben gerettet. War der Säbelzahntiger im Anmarsch, setzte er unsere Vorfahren in Zehntel von Sekunden in die Lage, auf die Flucht zu gehen oder anzugreifen (Flight or Fight). Hierfür fanden überlebensnotwendige Veränderungen im Körper statt, die alle in Richtung Leistungssteigerung zielten: Erhöhung von Herzfrequenz und Blutdruck, erhöhter Muskeltonus, um sich besser bewegen zu können, erweiterte Bronchien, um mehr Luft zu bekommen, Zuckerfreisetzung in der Leber, um Energievorräte zur Verfügung zu stellen, im Gehirn Ausschüttung von Botenstoffen, um die Aufmerksamkeit und den Antrieb zu erhöhen, erhöhte Adrenalinproduktion (Freisetzung von Stresshormonen) in der Nebenniere, Erhöhung der Blutgerinnung (um bei Verletzungen im Kampf oder auf der Flucht nicht zu verbluten) und einige Reaktionen mehr. Also höchst sinnvolle Reaktionen des Organismus, um Gefahren zu begegnen. 

War der Säbelzahntiger erlegt oder konnte man ihm erfolgreich davonlaufen, trat der Parasympathikus in Aktion, er steht-damals wie heute- für Ruhe und Erholung (Rest and Digest). Blutdruck und Herzfrequenz sinken, die Durchblutung von Magen-und Darmtrakt steigt, das Immunsystem wird gestärkt, die Produktion von Stresshormonen sinkt, Darm,Nieren und Blase arbeiten bei höherer Durchblutung besser, Antrieb und Aufmerksamkeint sinken-kurz, Entspannung tritt ein. 

Eigentlich ein geniales Zusammenspiel zweier lebenswichtiger regulatorischer Anteile unseres Nervensystems. 

Was ist heute unser Problem? Erstens sind die beiden Anteile des vegetativen Nervensystems bei vielen nicht in Balance, bei den heutigen Lebensumständen, den Lebenssstilstressen, der Belastung durch den Klimawandel und Umweltverschmutzung, genetischen und epigenetischen Belastungen kein Wunder. Zweitens springen die archaisch anmutenden Stoffwechselreaktionen in unserem Organismus heute noch genauso in einer Zehntelsekunde an wie vor 10000en von Jahren. Nur, dass wir uns heute nicht mehr über den Säbelzahntiger überlebenswichtige  Gedanken machen müssen sondern um den Stress auf der Arbeit, den Ärger mit Arbeitskollegen, die aufmüpfige pubertierende Tochter, Streit mit mit dem Partner oder einer Freundin, Streit in der Nachbarschaft. Oder Angst vor gesundheitlichen Problemen, der globalen politischen Sitaution, eskalierenden Kriegen, Klimaveränderungen, die unsere Exixstenz bedrohen u.v.m, die Liste lässt sich beliebig fortsetzen. Während früher nach getaner Arbeit (Fight or Flight) der Parasympathikus seine Arbeit wieder aufnehmen konnte, sämtliche Stresshormone durch Kampf oder Flucht verbraucht waren und die Sippe beim Feuer am Abend zum gemeinsamen Mahl wieder in Frieden zusammenkam, ist die Regulation des vegetativen Nervensystems heute eindeutig zu Gunsten des Sympathikus dysreguliert. Der Stress ist auf dem Vormarsch.

Professor Seifritz, Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, formuliert dies so:“ Evolution ist ein ständiger Anpassungsprozess zwischen Mensch und Umwelt. Aber derzeit verändert sich die Umwelt so rasant, dass unsere evolutionäre Entwicklung keine Chance hat, mitzuhalten.“

Eine Dauerstimulation des Sympathikus führt zu einer Reihe biochemischer Reaktionen im Körper, die man nichtmanifestiert haben möchte. Der Blutzucker steigt und es kommt zu diabetischen Stoffwechselstörungen, es werden proentzündliche Zytokine gebildete, die Herz, Gefässe und auch das Immunsystem beeinträchtigen. Eine dauerhafte Freisetzung von Stresshormonen schwächt das Immunsystem und führt zu Infektneigung und Immundysregulation bis hin zu Autoimmunerkrankungen. Neuroendokrin kommt es auf Dauer in unserem Gehirn zur Abnahme von Neurotransmittern, die uns glücklich und angstfrei sein lassen.

Wie lässt sich das abbilden?

Gemessen wird die Aktivität des  vegetative Nervensystems über die Herzfrequenzvariabilität. Schreiben wir ein EKG, zeigt dieses im besten Fall ganz regelmässige R-Zacken, also gleiche Abstände zwischen den einzelnen Herzschlägen. Das nennen wir einen regelmässigen Sinusrhythmus, der vom Sinusknoten im Herzen ausgeht. Ganz genaue Messungen zeigen aber, dass es minimale Unterschiede gibt zwischen den einzeln Herzaktionen, die Herzfrequenzvariabilität. Diese kaum wahrnehmbaren Veränderungen entstehen dadurch, dass der Taktgeber des Herzens, der Sinusknoten, permanent durch sympathische und parasympathische Impulse und entsprechende Botenstoffe beeinflusst wird. Erstmals berichtete hierüber im 3. JH nach Christus der chinesische Arzt Wan Shu-he: “Wenn der Herzschlag so regelmässig wie das Klopfen des Spechtes oder das Tröpfeln des Regens auf dem Dach wird, wird der Patient innerhalb von 4 Tagen versterben“. Nun, das hoffen wir nicht, aber es zeigt, dass die Bedeutung der Herzfrequenzvariabilität schon lange bekannt ist. Und mittlerweile bestens erforscht.

Wie geschieht das in der Praxis?

Es handelt sich um eine Kurzzeitmessung. Der Patient soll am besten vor der Messung ca 10 min ruhen, sitzend auf einem Stuhl. Dann wird auf Brusthöhe ein Brustgurt angelegt, der die Herzaktionen ableitet und die Signale der Herzaktionen via Bluetooth an eine Computer weiterleitet. Es werden standardisiert 520 Herzaktionen abgeleitet, dies dauert je nach Herzfrequenz zwischen 5 und 10 Minuten. Während dieser Zeit wird der Patient alleine gelassen. Im Anschluss an die 1. Messung wird immer eine zweite durchgeführt, jetzt unter einer getakteten Atmung, d.h., die Länge von Ein- und Ausatmung wird vorgegeben. Durch eine getaktete Atmung wird der Parasympathikus stimuliert. Ist die Regulationsfähigkeit des Systems gut, wird hierdurch die Aktivität des Parasympathikus steigen und die Herzfrequenzvariabilität erhöht sich. Vergleicht man nun  Messung 1 und Messung 2,  sieht man im besten Fall bei der 2. Messung ein deutliches Absinken der sympathischen und- noch wichtiger- ein Ansteigen der parasympathischen Aktivität und erhält einen Einblick in die parasympathischen Reserven. Was wir nicht gerne sehen ist eine Regulationsstarre, was bedeutet, dass der Parasympathikus währen der getakteten Atmung nicht ansteigt sondern gleich bleibt oder sogar absinkt-Zeichen einer starken sympathikonen Ausrichtung des Organismus.

Bei wem und wann?

Eigentlich ist die Überprüfung der Aktivität bei jedem sinnvoll. Nicht selten stimmen  Selbstwahrnehmung („ich habe keinen Stress“) mit den gemessenen Werten nicht überein. Die Diagramme sind anschaulich, man hat etwas in der Hand,  das gut verständlich den aktuellen Zustand des vegetativen Nervensystems widerspiegelt,  dessen Bedeutung  nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Sehr gut kann man im Gespräch mit dem Patienten auch versuchen, die Stressoren des vegetativen Nervensystems, die physische und psychische Ursachen haben können, herauszufinden. Und das wichtigste daran: Man kann etwas tun und prophylaktisch aber auch therapeutisch eingreifen, um den Parasympathikus zu aktivieren. Bei eingangs erwähntem Patienten ist es sinnvoll, nach 6 Wochen eine Kontroll-Untersuchung zu machen und zu schauen, ob sich die parasympathische Reserve erholt hat. Wenn nicht, ist Vorsicht angesagt: Ist der Blutdruck wirklich gut eingestellt, sind die Blutfette noch weiter zu optimieren, wird wirklich regelmässig 3x/Woche moderater Ausdauersport getrieben, geht der Zeiger auf der Waage nach unten, sind die kardioprotektiven orthomolekularen Marker und sonstige Mikronährstoffe  im satten Normalbereich? Sieht das 2. Diagramm deutlich besser aus als bei der ersten Messung, ist erstmal Entspannung angesagt und der Patient (und ich auch) dürfen uns an der guten Entwicklung freuen. Und uns in weiteren 6 Wochen wiedersehen…..

© Dr. Nicole Lion-Mock